BRAUNSCHWEIG / Ev. Martinikirche

Ev. Martinikirche, Markt- und Hauptpfarrkirche der Altstadt. 1204 von König Otto IV. der Verwaltung der Bürger übertragen, die das Recht der selbständigen Pfarrerwahl erhielten. - Dreischiffige, sieben- jochige Hallenkirche mit zweitürmigem Westbau, gerade schließenden Seitenschiffen und einem 5/s-Chorpolygon. Bis auf den urspr. verputzten Westbau aus Quadermauerwerk, Elmkalkstein und Rogenstein.
Baugeschichte. Gründungsbau in engem Anschluß an den „Dom“. Baubeginn im O um 1190/1200; A. 13. Jh. Westbau und Langhaus in Angriff genommen; Vollendung der Pfeilerbasilika im 1. Dr. 13. Jh. Das Langhaus im gebundenen System zu 4 Doppeljochen, das Querhaus mit Nebenapsiden. Hauptapsis und Nebenapsiden wie auch die Außenmauern der urspr. Seitenschiffe 1897 durch Grabung nach gewiesen.- 2.Schrittweiser Umbau zur Hallenkirche M. 13. Jh. bis kurz vor M. 14. Jh., die Bauabfolge im Detail ungeklärt: Außenmauern der Seitenschiffe (zunächst im S), nach Umbau der Mittelschiffpfeiler und Erhöhung des Obergadens wohl im 4. V. 13. Jh. Abbruch der romanischen Hauptapsis, Chorerweiterung um ein 2. Joch, gerader Ostschluß. Die beiden östl. Seitenschiffjoche nachträglich angefügt (Altar auf der Sakristei-Empore 1301 erstmals genannt; Ablaß von 1322 belegt laufende Bauarbeiten). - 3. Um 1400 Erweiterung der kastenförmigen Hallenanlage durch das Chorpolygon. 1434 Stiftung der Annenkapelle an der Südseite, Weihe 1436/37.- Umfassende Erneuerung 1897—99 durch M. Osterloh. — Kriegsschäden 1944; Wiederherstellung der Dächer, 1954-56 Restaurierung des Inneren. 1980 Rekonstruktion der Turmspitzen anhand historischer Abbildungen; 1977—88 Steinrestaurierung des gesamten Außenbaus, anschließend Innenrestaurierung.
Baubeschreibung. Das Äußere im wesentlichen durch den gotischen Umbau bestimmt, der nur den vom „Dom“ abhängigen Westbau unverändert ließ. Der querrechteckige Unterbau ist bis über die Firsthöhe des Langhauses hochgezogen. Die beiden Achtecktürme darauf ohne Vermittlung durch ein vorbereitendes Zwischengeschoß. Das gotische Glockengeschoß ersetzte ein älteres, das wahrscheinlich frei zwischen den Türmen stand. In dem ungegliederten Kubus — nur die Ecken sind durch Kantensäulen profiliert - dominieren in der Mittelachse das große Säulenportal mit Sockelumlauf und die Fenster darüber; korinthisie- rende Kapitelle von Königslutter abhängig (Tympanon-Relief E. 19. Jh.). Das stilistisch verwandte Südportal im Westjoch beim Umbau E. 13. Jh. wiederverwendet, ebenso Teile des Nordportals (Tympanon um 1310/20).— Langhaus von Strebepfeilern umstellt. Auf der Südseite vierbahnige Fenster mit rundstäbigem Maßwerk, die 2 östl. Joche mit sphärischem grätigen Maßwerk. Jedes Joch durch einen Giebel mit Blendmaßwerk abgeschlossen, hervorgehoben die Stirnwände des ehem. Querhauses Zyklen monumentaler Plastik (s.u.). Der Giebelkranz über dem Chorpolygon mit barockem Blendmaßwerk um 1700.
Innen. Die erhaltenen Teile der romanischen Basilika (Mittelschiff, Querhaus und Chorquadrum) zeigen den engen Anschluß an den „Dom“: im Mittelschiff gurtlose Kreuzgratgewölbe, konsequente Weiterentwicklung des Systems der Gewölbeauflager (im Querhaus des „Doms“ uneinheitlich) und der Profilierung von Pfeilern und Vorlagen durch Kantensäulen (Seitenschiffvorlagen im „Dom“ scharfkantig). Die zweigeschossige Gliederung der Pfeiler im Langhaus entstand M. 13. Jh.; die Zwischenpfeiler wurden entfernt und ihre Werkstücke als obere Zone der Hauptpfeiler wiederverwendet. Zur gleichen Bauphase gehören die bis zur Kämpferhöhe der Gurtbögen hochgeführten Vorlagen in den Querarmen, die Verlängerung der Seitenschiffe über das Querhaus hinaus war also schon beim ersten Plan zum Hallenumbau vorgesehen. Das Kreuzrippengewölbe des Südschiffs mit Birnstabprofilen, kräftige dreigliedrige Dienstbündel, an den Pfeilern auf den romanischen Kämpfern ruhend. Profile, Dienstbildung und Fensterformen weisen das rippengewölbte Nordschiff und die 2 östl. Joche des Südschiffs als etwas jünger aus. Im Ostjoch des nördl. Seitenschiffs die Sakristei, darüber liegt die Empore.- Im Westbau über der Vorhalle und dem südl. Nebenraum liegt — erreichbar über eine Treppe im Nordturm - eine zweijochige Empore, die sich ehern, mit einer Dreibogengruppe zum Mittelschiff hin öffnete, die seitlichen Arkaden mit Brüstungen ausgestattet. Im Gegensatz zu den kargen vom „Dom“ her übernommenen Kapitellformen des Langhauses sind die als Auflager des Kreuzgratgewölbes dienenden Ecksäulen des Hauptraums der Empore durch reiche Blatt- und Rankenkapitelle ausgezeichnet, teils Königslutter-Nachfolge, teils durch rheinische Einflüsse geprägt. - Im südl. der 3 Chorfenster Glasmalerei, 1842 von Eli, Braunschweig, Heinrich der Löwe als vermeintlicher Kirchengründer und Herzog Julius v. Braunschweig als Einführer der Reformation.
Bauplastik. Tympanon des westl. Nordportals: in einem frühgotischem Blattkranz das Lamm, umgeben von den 4 Evangelistensymbolen. - Am nördl. Giebel des ehem. Querhauses: Christus, Ecclesia und Synagoge, je 4 der Klugen und Törichten Jungfrauen, der Figurenstil möglicherweise von Straßburg über Freiburg nach Braunschweig um 1310/20 vermittelt. Im Tympanon des Portals Marientod. - Am entsprechenden Giebel der Südseite: Maria mit dem Kind und die Hll. Drei Könige um 1320/30, Johannes d.T., Petrus und Paulus um 1340.- An der Nordostecke Bischofsfigur unter Baldachin E. 15. Jh. (hl. Martin?). - Baldachinfiguren des Chorpolygons: Bischof Bernward, Madonna und ein weiterer Heiliger A. 15.JI1.; Luther A. 18. Jh.
Annenkapelle. Am 2. Joch von W an das Schiff angefügt, mit weitem Bogen zur Kirche geöffnet. 1434 Stiftung, Weihe 1436/37. Der über 5 Seiten eines Achtecks errichtete Bau zeigt durch das steile Zeltdach (1959 rekonstruiert) und die Gewölbeform im Innern Zentralbautendenz, möglicherweise dem Typus der englischen Chapter Houses folgend. Über der Sockelzone werden Wandfelder zwischen den Strebepfeilern fast vollständig durch hohe Maßwerkfenster aufgebrochen und von wimpergartigen Giebeln mit Blendmaßwerk bekrönt. Im Innern unter den Fenstern Sitznischen, die von je 3 kielbogigen Arkaden überfangen werden (1438 nachträglich eingefügt). Sternförmig angeordnetes Rippengewölbe. An der Ostseite zwischen Fialen der Altar, Tafelbild von A. Quensen. — Umfangreiches Figurenprogramm zwischen 1434 und M. 15. Jh., noch ganz im späten sog. Weichen Stil: In Höhe der Fensterzone Einzelfiguren auf Konsolen: Maria mit Kind, Anbetung der Hll. Drei Könige, Joachim, Anna selbdritt (farbige Fassung erneuert). Die figurale Ausstattung der Sitznischen ist auf das mittlere südl. Wandfeld ausgerichtet: im Zentrum der oberen Zone Maria als Himmelskönigin neben Christus thronend, flankiert von den 12 Aposteln und zahlreichen Heiligen. An den Bänken kleinfigurig in der Mitte Geburt Christi zwischen Verkündigung und Anbetung der Könige; Sündenfall, allegorische Figuren, Tugenden (im 19. Jh. als männliche Figuren ergänzt). Büsten und Konsolfiguren. Außen am Südgiebel Auferstehung und Christus als Weltenrichter. Die urspr. Strebepfeilerfiguren jetzt im Mittelschiff: Maria mit Kind und Anbetung der Hll. Drei Könige, stark verwittert, Ikonographie also entsprechend dem Inneren.
Ausstattung. Hochaltar 1722-25 nach Entwurf des Architekten Joh. Jakob Müller von A. D. Jenner, das Hauptwerk des Bildhauers. Zweigeschossige Schauwand aus Marmor mit 2 seitlichen Durchgängen. Im Mittelfeld der unteren, von Pilastern gegliederten Zone Abendmahlsrelief (bez.), flankiert von den fast lebensgroßen, vollplastischen Moses- und Jeremiasfiguren. In der oberen Zone der von gestaffelten Säulen flankierte Gekreuzigte, seitlich 3 Evangelisten und Paulus (urspr. mit Schwert). Als Bekrönung Auferstehung. Am Gebälk des Untergeschosses 3 kleine, sehr flach gearbeitete Reliefs: Isaaks Opferung, eherne Schlange und Jakob empfängt Josephs blutiges Gewand. Kniebänke aus Marmor ebenfalls von Jenner. — Kanzel in Marmor, Alabaster und Holz, 1619—21 aus der Werkstatt J. Röttgers. Am Kanzelkorb und der Brüstung des Aufgangs 7 Reliefs mit Darstellungen aus der Kindheit Jesu, die auf Stiche niederländischer Romanisten nach Vorlagen von Marten de Vos zurückgehen. Beigeordnet die 4 Evangelisten. Unter der Kanzel freistehend Reiterstatue des hl. Martin. Am hölzernen Vorbau Christus als himmlischer Bräutigam sowie je 5 der Klugen und Törichten Jungfrauen. Schalldeckel aus Holz 1617; aus Alabaster die 5 Passionsreliefs, Propheten, Engel mit Leidenswerkzeugen, Himmelfahrt und als Bekrönung Christus als Weltenrichter. - In der Annenkapelle bronzenes Taufbecken von B. Spran(g)ke, dat. 1441; getragen von den 4 Paradiesflüssen, am Kessel 7 aufgelegte Reliefs: Verkündigung, Geburt, Darstellung im Tempel, Taufe, Kreuzigung, Himmelfahrt, Ausgießung des Hl. Geistes; hoher baldachinartiger Deckel aus Holz dat. 1618, aus der WerkstattJ. Röttgers, Apostelfiguren und 6 Alabasterreliefs mit typologischen Hinweisen auf die Taufe; Figurenschmuck: Taufe Christi und Ausgießung des Hl. Geistes, Apostelfiguren, Tugenden, als Bekrönung der Gekreuzigte. Das sechsteilige schmiedeeiserne Gitter 1671 von H. Must. — Großer Orgelprospekt 1630/31 nach Entwurf des Orgelbauers J. Weigel von den Schnitzern U. Behr, Braunschweig, Joh. Braun, Hamburg, und A. Meveus, Celle, ausgeführt. Reiche Figuren- und Knorpelwerkdekoration. Orgelempore und Rückpositiv 1899 bis zum ersten Pfeilerpaar vorgezogen, dabei die Brüstung einer 1617-20 in der J. Röttger-Werkstatt entstandenen Prieche mit 8 Passionsreliefs und 12 Aposteln wiederverwendet (2 Apostel- figuren 1630 von A.Meveus, Celle, hinzugefügt). - Schlichtes gotisches Chorgestühl 15.Jh.- Sakristeitür dat. 1572, wohl von Z. Vecheldt, Holzarchitektur mit reichen Intarsien. - Empore im Südschiff 1899 umgearbeitet unter Verwendung von Schnitzereien des Bildhauers J.C. Schurrius von 1740.- 26-armiger Kronleuchter aus Messing von 1584, 1977 restauriert.
Figürliche Grabplatten für: 1. Bürgermeister Jobst Kaie (+1584) und Frau Anna (+1588) bez. HS. 2. Paschasius Brismann (+1587) von J.Röttger. 3. Melchior Steigmann (+16o6).— Von den ehern, sehr zahlreichen Epitaphen nur einige Stücke vorhanden, u.a.: 1. Bürgermeister Gerhard Pawel (+1554) und Frau von Hans Jürgen gen. Spinnrad dat. 1555, Stein, Ädikularahmung. 2. Hermann IX. v. Vechelde (+1560) mit Frau und Kindern, Bronzeguß von H. Meisner (bez.), Gekreuzigter unter einem von Hermen gestützten Rundbogen. 3. Autor v. Peine (+1566), Relief Anbetung des Kindes von A. Liquier. 4. Oberst Christoph v. Steinberg (+1570), 1571 (dat.) vom Monogrammisten FB (Franz Bock?), 1984—85 restauriert; qualitätvolles Hauptbild „Gebet Christi am Olberg“ in kalten manieristischen Formen. 5. Franz Kaie (+1588), Alabasterrelief Taufe Christi. 6. Thile Büring dat. 1597, Gnadenstuhl, kleines Alabasterrelief der Röttger- Werkstatt (?). 7. Stadtsuperintendenten Martin Chemnitz (+1586), Porträttafel von 1580, L. Cranach d.J. zugeschrieben, hölzerner Ädi- kularahmen dat. 1587, wohl /. Röttger-Werkstatt. - Zahlreiche Pastorenbildnisse 18./19.Jh.
Von den Grabsteinen E. 16.-18. Jh. am Außenbau ist hervorzuheben der des W. C. v. Rauchhaupt, 1610 wohl von J.Röttger, am Ostende des Nordschiffs.
Neuntöniges Geläut, „Weterglocke“ um 1450, weitere Glocken 17. Jh.